Mittwoch, 15. August 2012

"Frau Drygalla hat ein Recht auf Umkehr ..."

Lange hatte ich überlegt, ob ich Nikolaus Schneider einen
Brief schreiben soll, da er auch mein oberster Dienstherr ist. Denn den Aufschrei der Empörung allerorten im Netz verstehe ich völlig. Mit Frau Drygalla ereignet sich ähnliches wie seinerzeit im Fall Sarrazin: Die veröffentlichte Meinung und die vox populi klaffen meilenweit auseinander. In diesem Fall haben es die Haupt-Kesseltreibenden WELT und ZEIT dann offenbar doch gemerkt und schließlich unglaublich heuchlerische Artikel über eben den Ungeist dieses medialen Kesseltreibens veröffentlicht, das sie selbst losgetreten haben.

Schneider scheint da gemeinsam mit einem Teil des evangelischen Establishments eher zu denen gehören, die den Schuss schon lange nicht mehr hören: Er hält noch nicht einmal eine Richtigstellung ob der ungeheuerlichen Vorverurteilung für angebracht, die er ausgesprochen hat - und das bekanntlich ohne den geringsten Hinweis auf irgendein Tun oder Sagen von Frau Drygalla selbst, das ein solches Urteil rechtfertigen würde. Natürlich kannten wir so etwas bisher nur unter den Nazis ("Sippenhaft", wie Schneider ja selbst sagt) und den Stalinisten. Selbstverständlich ist Schneider keins von beiden. Aber wie intensiv muss das Gefühl sein, unbedingt auf der Seite des Guten zu stehen und wie groß der Abscheu gegenüber dem vermeintlich Bösen und Falschen, dass für solche Details wie ein konkreter Schulderweis kein Raum mehr bleibt.

Und es ist kein Wunder: Unter den derzeit amtierenden evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern ist der Anteil ehemaliger (?) linker Aktivisten aller Spielarten signifikant höher als bei anderen akademischen Berufsgruppen, wahrscheinlich sogar höher als bei Lehrern (ich weiß das aus eigener Anschauung universitärer Milieus in den Achtzigern und frühen Neunzigern, als viele der jetzigen Amtsinhaber studierten - und, wie ich zu meiner eigenen Schande gestehen muss, aus reichlich eigenem Mittun). Und ich erinnere mich noch gut des Klimas, das damals weithin herrschte. Das Gefühl, auf der historisch und theologisch "richtigen" Seite zu stehen (Barth, Bonhoeffer ...), der Wunsch, das Falsche mit Stumpf und Stiel auch aus dem Denken austreiben zu wollen - das war nicht nur bei den eigentlichen politischen Aktivisten ausgeprägt, sondern herrschte bis in theologische Seminare.

Ich habe den Brief dann doch nicht geschrieben. Vordergründig war es Zeitmangel, aber hintergründig auch ein Stück Resignation. Wir müssen woanders ansetzen als uns an den Schneiders abzuarbeiten, mehr an der Basis, um dort mit Fragen und Zweifelsäen kleinere und größere Löcher zu bohren in die Mauern der offiziellen Gewissheiten und den Vielen eine Stimme zu geben, denen der offizielle Jargon immer fraglicher wird.

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